Schritt 3
Der wilde Mann
Im oberen Verzascatal lebte einst ein seltsamer Mann. Die Leute nannten ihn Waldmann. Er war riesig, hatte einen Vollbart und lange Haare. Immer trug er einen schweren Mantel. Nicht einmal im Sommer zog er ihn aus.
In jenem Jahr gaben ihm die Bewohner eines Dorfes ihre Ziegen zum Weiden.
Jeden Tag blies der Mann in sein Horn, öffnete den Mantel wie zwei Flügel, flog davon und nahm die Ziegen mit zu den saftigsten Wiesen im oberen Verzascatal. Am Abend flog er mit ihnen zurück zu den Ställen. Die Bäuerinnen molken die beste Milch, die sie je probiert hatten.
Der wilde Mann kümmerte sich bei schönem und schlechtem Wetter um die Tiere, sogar wenn im September der erste Schnee fiel. Der Oktober kam. Eines Tages brach ein heftiger Sturm los, so stark, dass sich die Häuser zu krümmen schienen.
Einige Dorfbewohner sahen, dass die Ziegen nicht grasten. Überall sprangen sie aufgeregt über Stock und Stein. Vom Ziegenhirten keine Spur. Man fand ihn in seiner Höhle; zusammengebrochen; den Rücken gekrümmt; verkrampft hielten die Hände den grossen gebeugten Kopf. Er hauchte: „Der Wind!... Der Feind!... Peitsche die Glieder!... Trockne das Blut!...“.
Nach drei Tagen Sturm starb der Waldmann. Seitdem gelang es keinem anderen Hirten mehr, die Ziegen des oberen Verzascatals auf jene saftigen Weiden zu bringen.
Sage aus dem oberen Verzascatal
Virgilio Chiesa, L’uomo selvatico. In: AA.VV., Il Meraviglioso. Leggende, fiabe e favole ticinesi, vol.1, Dadò ed., Locarno, 1990. pp.148-149. Testo adattato per il sentiero delle leggende. Irene Briner (Stimme), Andrea Pedrazzini (Aufnahme)